Der neue Berg schweigt wieder: keine Aschewolken, keine Lavaströme, keine explosionen mehr! Nur hin und wieder steigen ein paar kleine Wölkchen von seinem Krater auf, dessen Ränder im Sonnenlicht schwefelgelb leuchten. Am 25. Dezember 2021 gab die Regierung von La Palma offiziell Entwarnung nach dem Ende des Vulkanausbruchs, der die Inselbewohner 85 Tage lang in Atem gehalten hatte.
Die Bilanz: fast 1.700 Gebäude zerstört, 370 Hektar Bananenplantagen und Weinberge von Asche und Lava bedeckt, rund 80 Kilometer Straßen verschwunden. Doch dafür gibt es eine neue Sehenswürdigkeit: „Wir wollen den jungen Vulkan in einen weiteren Anziehungspunkt verwan – deln“, sagt Raquel Hernández, Tourismusbeauftragte der Insel. „Dabei betrachten wir ihn sozusagen als unseren Freund oder Verbündeten.“
Das Leben am Fuße von Vulkanen war schon immer Alltag auf der gut 700 Quadratkilometer großen Insel, die sich vor mehr als zwei Millionen Jahren aus dem Meer erhob. Dieser Urvulkan liegt nur einen Katzensprung vom jüngsten Krater entfernt: Eine wilde Straße schraubt sich bis auf 2.426 Meter Höhe, wo man vom Gipfel des Roque de los Muchachos einen weiten Blick werfen kann.
Eine bunte Vielfalt auf engstem Raum ist charakteristisch für La Palma, wo man morgens inmitten historischer Architektur frühstücken, mittags durch einen ver wunschenen Lorbeerwald spazieren und bei Sonnenuntergang an einem schwarzen Strand in die Atlantikwellen springen kann – aber so eilig hat es hier kaum jemand.
Die üppige Vegetation verdankt La Palma unter anderem den Passatwolken, deren feine Wasserpartikel der Urwald aufsaugt. Nur zehn Prozent der Insel waren vom jüngsten Vulkanausbruch betroffen – auch wenn viele Medien einen anderen Eindruck vermittelten. Schon während der Eruptionen reisten Vulkanfans und Fotografen an, um das Naturschauspiel zu erleben, damals ein umstrittenes Vergnügen. Doch nun soll die neue Attraktion helfen, nach dem Einbruch des Tourismus wieder Geld in die Kassen zu spülen.
Selfie vor dem neuen Vulkan
Seit Ostern kann man eine ganztägige Tour voller Fakten und Hintergründe zu den Schauplätzen der Eruption buchen. „Ihr seht den Vulkan heute von oben, von unten, vom Land und übers Wasser“, sagt der junge Guide Romeo Weber auf der Terrasse vor der Kirche von Tajuya, einem der besten Aussichtspunkte auf den jungen Berg. Ohne ein Selfie mit dem Krater im Hintergrund verlässt kaum einer den Platz. Die nächste Station heißt La Laguna, auf den ersten Blick ein verschlafenes Inseldörfchen: Ein paar Frauen ernten gerade Avocados, Männer laden Bananenstauden auf einen Pickup, bunte Blumen sprießen zwischen Weinreben. Doch der Schwefelhauch in der Luft bezeugt die Nähe zum Lavastrom, ein Haus liegt halb darunter begraben. „Das Magma stoppte wie durch ein Wunder am Rande des Ortes“, sagt Romeo.
In der Ferne ragen vereinzelt Ruinen aus dem steinernen Meer – die weißen Fassaden wirken wie die Segel von treibenden Schiffen. Das Dröhnen von Baggern dringt herüber: Mit Hochdruck baut man an einer neuen Straße in den Süden – mitten auf dem Lavastrom. „Das wird über mehrere Jahre eine Schotterpiste bleiben“, sagt Romeo. Der Untergrund sei teilweise noch bis zu 300 Grad heiß und Asphalt würde wegschmelzen. Das spürt die Gruppe eindrücklich bei einem kurzen Spaziergang über den Lavastrom, der die alte Straße unter sich begraben hat. Der Untergrund ist brüchig, rutschig, instabil, und an einer Stelle steigt Hitze auf, als hätte man einen Backofen geöffnet. Nur ein Vorgeschmack auf die Atmosphäre am Fuß des Vulkans: Mit dem Bus geht es über Serpentinen aufwärts in
Richtung der Stelle, an der sich am 19. September 2021 um 15.10 Uhr der erste Spalt öffnete.
Frisches Grün in der Asche
Ein Nationalparkwärter räumt eine Barrikade beiseite, dann ist das Sperrgebiet erreicht. Nach dem Ende des Ausbruchs ließ die Inselregierung einen zweieinhalb Kilometer langen Wanderweg zum Fuß des neuen Vulkans anlegen. Zum Schutz des jungfräulichen Ökosystems ist der Besuch reglementiert: Nur drei Gruppen mit jeweils maximal 15 Teilnehmern inklusive Guide sind pro Tag zugelassen.
Die Nadeln der Kanarischen Kiefern am Wegesrand sind braun und trocken. „Sie sind nicht verbrannt, sondern verdorrt“, sagt Romeo. Die Eruptionen haben so viel Sauerstoff geschluckt, dass die Feuer immer wieder ausgingen. Und wo es dennoch brannte, schützte ihre bis zu acht Zentimeter dicke Rinde die endemischen Bäume. „Warum sind die Kiefern so klein?“ fragt ein Wanderer. „Ihr seht quasi nur die ‚Spitze des Eisbergs‘“, antwortet Romeo. „Hier liegt die Asche teilweise meterhoch.“ Auch die Wanderwegweiser haben nur noch Kindergröße. Doch in den Ästen der Bäume ist schon wieder frisches Grün zu sehen und am Boden wachsen saftige Jungbäume.
Dann ist der Aussichtspunkt über dem Vulkan erreicht: Die schwefl ig gelben Wolken, die vom Krater herübertreiben, vermischen sich mit den Nebelschwaden und hüllen die Landschaft langsam ein. Ein riesiger schwarzer Rabe trägt seinen Teil zur mystischen Stimmung bei: Er fl attert neben der Gruppe von Ast zu Ast und lässt sich geduldig fotografi eren – offenbar in der Hoffnung auf Futter.
Bei Redaktionsschluss dieser Ausgabe war noch nicht entschieden, wie der neue Vulkan heißen soll. Vielleicht Cumbre Vieja nach dem umliegenden Gebirgszug? Cabeza de Vaca nach der Region seines Ausbruchs? Oder Jedey, nach einem historischen Krieger? „Tajogaite“ schlug das vulkanologische Institut der Kanaren vor, „gespaltener Berg“ in der Sprache der Ureinwohner
Exkursionen für Einheimische
Doch die Entscheidung soll letztlich bei den Palmeros selbst liegen. Vielleicht ein guter Grund, noch etwas zu warten mit der Namensgebung, denn die meisten sind so kurz nach dem Ausbruch nicht besonders gut auf den neuen Berg zu sprechen. Um sie mit ihrem neuen „Freund“ vertraut zu machen, veranstaltet die Inselregierung an jedem Wochenende kostenlose Exkursionen für die Einheimischen – ohne Touristen. 3.000 Schüler nehmen am Projekt „Gib ihm einen Namen“ teil, in dem das Gemeinschaftsgefühl nach der Krise gestärkt werden soll.
Wer sich noch intensiver mit dem Phänomen beschäftigen möchte, kann im Besucherzentrum Caños de Fuego tiefer eintauchen – im wahrsten Sinne des Wortes, denn dort darf man in zwei Vulkanröhren hinabsteigen, die von der Eruption des Vulkans San Juan 1949 stammen. Über lange Holzstege spaziert man durch die schwarze Landschaft Richtung Meer bis zu einem Aussichtspunkt auf einem gläsernen Skywalk.
Das futuristische Besucherzentrum wirkt wie ein Raumschiff, das in der Aschelandschaft gelandet ist. Beim Rundgang erfährt man auch, dass zwei der Lavaströme ins Meer gefl ossen sind – die Insel ist dadurch um 48 Hektar gewachsen. Ein Strand wurde vernichtet, dafür entstanden zwei neue. Der neue Vulkan hat eben nicht nur genommen, sondern auch gegeben. Nun benötigt er nur noch einen Namen.